Eine traumatische Rückenmarksverletzung (SCI) ist eine schwere Erkrankung, die zu
dauerhaften Behinderungen, Verlust motorischer und sensorischer Funktionen sowie zu
Komplikationen in verschiedenen Organen führen kann. Neben den körperlichen Folgen
hat sie erhebliche psychologische und soziale Auswirkungen, und derzeit gibt es nur
begrenzte therapeutische Optionen, die in der Lage sind, verlorene Funktionen
wiederherzustellen.
In den letzten Jahren hat die regenerative Medizin dank des Einsatzes mesenchymaler
Stammzellen (MSC) neue Perspektiven eröffnet. Insbesondere MSC aus der Wharton-
Gelatine – einem Gewebe der Nabelschnur, das reich an primitiven und wenig
immunogenen Zellen ist – haben in Laborstudien die Fähigkeit gezeigt, Entzündungen zu
modulieren, Neuronen zu schützen und die Geweberegeneration zu fördern.
Die klinische Studie
Eine kürzlich durchgeführte multizentrische Phase-I-Studie mit offenem Design (das heißt
ohne Kontrollgruppe, wobei alle Teilnehmenden die Behandlung erhalten) untersuchte die
Sicherheit und Machbarkeit der Verabreichung dieser Zellen (WJ-MSC) bei Personen mit
kompletter chronischer Rückenmarksverletzung, die seit mindestens sechs Monaten
besteht.
Um die Wirksamkeit zu maximieren, wurden die Zellen gleichzeitig über drei Wege
verabreicht:
Intrathekal (direkt in die Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, um auf das Rückenmark
einzuwirken)
Intramuskulär (zur Stimulierung der betroffenen Muskeln)
Intravenös (für eine systemische und immunmodulatorische Wirkung)
Jede Patientin bzw. jeder Patient erhielt innerhalb von zwei Monaten vier
Behandlungszyklen mit einer Dosierung von 1 Million Zellen pro Kilogramm Körpergewicht
für jede Verabreichungsart. Die Nachbeobachtung dauerte ein Jahr.
Die Ergebnisse
Am Ende des einjährigen Beobachtungszeitraums wurden in mehreren Bereichen
signifikante Verbesserungen festgestellt:
Motorische Funktion: Anstieg der ASIA-Motor-Scores und der motorischen
Unabhängigkeitsskala (FIM Motor) mit deutlichen Fortschritten nach zwei Monaten,
die bis zu einem Jahr anhielten.
Sensorische Funktion: Verbesserungen bei Tests der leichten Berührungs- und
Schmerzempfindlichkeit.
Reduzierung der Spastik: Die Ashworth-Skalenwerte verringerten sich um mehr
als zwei Drittel im Vergleich zum Ausgangswert.
Blasen- und Darmkontrolle: Verbesserte Werte sowohl bei Harninkontinenz
(Qualiveen Short Form) als auch bei Stuhlinkontinenz (Wexner Incontinence Score)
mit positivem Einfluss auf die Lebensqualität.
Es wurden keine schwerwiegenden, mit der Behandlung verbundenen unerwünschten
Ereignisse beobachtet. Die berichteten Nebenwirkungen – leichtes und vorübergehendes
Fieber, Kopfschmerzen oder Muskelschmerzen – waren selten, von kurzer Dauer und
leicht zu behandeln.
Bedeutung und Perspektiven
Die Daten dieser Studie zeigen, dass die Therapie mit WJ-MSC, die gleichzeitig über
mehrere Wege verabreicht wird, sicher ist und zu spürbaren Verbesserungen der
motorischen und sensorischen Funktionen sowie der Lebensqualität führen kann – selbst
bei Patientinnen und Patienten mit vollständigen chronischen Rückenmarksverletzungen,
einer traditionell als schwer wiederherstellbar geltenden Erkrankung.
Es ist wichtig zu betonen, dass ohne eine Kontrollgruppe und bei fortgesetzter Anwendung
der Standardrehabilitations- und Pharmakotherapie nicht mit absoluter Sicherheit gesagt
werden kann, dass alle beobachteten Vorteile ausschließlich auf die Stammzellen
zurückzuführen sind. Dennoch machen das Ausmaß und die Beständigkeit der
beobachteten Verbesserungen eine entscheidende Rolle der WJ-MSC-Therapie plausibel
und bestätigen ihr Potenzial als eine der vielversprechendsten Strategien zur Förderung
der neurologischen Erholung in diesem komplexen klinischen Bereich.
Quelle:
Kaplan N, Kabatas S, Civelek E, Savrunlu EC, Akkoc T, Boyalı O, Öztürk E, Can H, Genc
A, Karaöz E. Multiroute administration of Wharton's jelly mesenchymal stem cells in
chronic complete spinal cord injury: A phase I safety and feasibility study. World J Stem
Cells. 2025 May 26;17(5):101675. doi:10.4252/wjsc.v17.i5.101675